von captain am 23.06.2025, 10:36
Antwort auf das FAQ zur Haltung von Weinbergschnecken – Ergänzende Praxiserfahrungen und Hinweise aus langjähriger Beobachtung
Liebe Schneckenfreunde,
vielen Dank für diese strukturierte FAQ, die für Einsteiger sehr hilfreich ist. Dennoch möchte ich – basierend auf persönlichen Langzeitbeobachtungen mit Helix pomatia in kontrollierten Terrarienbedingungen – einige Aspekte fachlich ergänzen und zur Diskussion stellen. Die Haltung dieser geschützten Tiere bringt nicht nur Verantwortung mit sich, sondern auch die Verpflichtung, ihre Biologie differenziert zu betrachten – gerade, wenn sich Verallgemeinerungen einschleichen.
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1. Ernährung und Futterpräferenzen
Die pauschale Aussage, dass „Salat, Gurke, Kohlrabiblatt“ zur Standardfütterung genügen, greift meiner Erfahrung nach zu kurz. Weinbergschnecken zeigen eine hoch differenzierte Auswahlstrategie, die sich mit dem Begriff „Launenhaftigkeit“ oder „individuellem Willen“ treffend beschreiben lässt. Futter wird nicht nach Konvention angenommen, sondern nach Frische, Reifegrad, Zellstruktur, Tageszeit und teilweise sogar nach sozialem Kontext.
Beispiel:
Während bestimmte Tiere im Spätsommer auf frischen, dunkelgrünen Löwenzahn regelrecht süchtig reagierten, wurde derselbe Löwenzahn im Folgejahr vollständig ignoriert – bei identischer Herkunft. Auch klassische Kohlrabiblätter, die im Vorjahr begierig gefressen wurden, wurden im aktuellen Zyklus zu trockenem Laub verarbeitet. Hingegen wurden weich gekochte Süßkartoffel-Abschnitte oder Mangoldblätter bevorzugt.
Schlussfolgerung:
Die Tiere erwarten Vielfalt, Auswahl und wechselnde Reize – eine Monofütterung wird langfristig ignoriert. Eine „Obst- oder Gemüse-Schnecke“ im klassischen Sinne gibt es nicht. Der Kalziumbedarf wird zuverlässig durch feuchte, zu Pulver zermahlene Eierschalen gedeckt – Sepiaschale wird, wenn senkrecht angebracht, oft effektiver genutzt.
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2. Terrarienstruktur – Boden, Zonen, Substrat
Der Bodengrund ist mehr als nur Substrat – er ist Strukturgeber, Brutstätte, Rückzugsort und Steuerungssystem für Mikroklima. Ich empfehle daher dringend eine zonierte Struktur:
Drainagebasis (z. B. mit Hoch-/Tiefbereich wie bei Flachwasserzonen in Schwimmbecken, evtl. mit unterlüftetem Innenboden)
Wechselfeuchtebereiche: trockene Ecke (für Eiablagebeobachtung), feuchtere Mooszone, Pflanzenareal
Aufkalkung nicht nur über Substrat, sondern punktuell über Boden-Kalknester (z. B. mit Dolomit oder Sepiapulver vermischt)
Diese Struktur erleichtert auch die gezielte Kontrolle von Gelegen, da Helix pomatia klare Ablagepräferenzen zeigt.
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3. Vergesellschaftung mit Mikrofauna – Nutzen und Grenzen
Das Forum erwähnt Asseln und Springschwänze zu Recht als Helferlein. Doch bei feuchtem Klima kippt das Gleichgewicht schnell:
Springschwänze können sich explosionsartig vermehren (auch ohne externes Futter), was zu massiver Reizung der Schnecken (körperlich & sensorisch) führt – besonders an Augen, Tentakeln, Schleimzonen.
→ Empfehlung: gezielte Feuchtigkeitskontrolle, Futterpause-Phasen, lokale Kalkstaub-Zonen, gelegentliche Absammlungen mit Gemüseschälchenfalle
Kompostwürmer sind in hoher Zahl problematisch. Sie destabilisieren die Bodenstruktur, zerfressen Gelege und bedrängen Jungschnecken.
→ Empfehlung: maximal 1–2 Tiere, keine Vermehrung zulassen, ggf. mit Substratdichte und Feuchte gegensteuern
Weiße Asseln (Trichorhina tomentosa) funktionieren hervorragend in moderater Dichte.
→ Empfehlung: selektives Einbringen, keine Holzasseln (Porcellio scaber) im Übermaß
Euborellia annulipes (Ohrwürmer): nicht empfohlen – sie stören Ruhephasen der Schnecken und können an Schleim und Eiern fressen
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4. Licht und Gehäusebildung
Ein viel zu wenig beachteter Punkt ist die Bedeutung von Licht (UV-Anteil, Dauer, Richtung). Eine dauerhaft schattige Haltung ohne Tageslicht kann zu Verzögerungen der Gehäusehärtung führen (sichtbar an Lichtdurchlässigkeit, z. B. Herzschlag erkennbar).
→ Empfehlung: zeitweise Balkonhaltung (geschützt), ggf. UV-durchlässiges Terrariumfenster oder pflanzenfreundliche UV-B-Lampe im Innenbereich.
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❄️ 5. Überwinterung und biologische Reife
Die Reifung von H. pomatia hängt nicht nur von der Anzahl der Überwinterungen ab, sondern von der Nährstoffverfügbarkeit, Bodenbeschaffenheit und Bewegungsfreiheit. Ein ausgereiftes Tier erkennt man oft nicht nur am verdickten Gehäuserand, sondern auch an seinem ruhigen Verhalten, strukturierten Fressphasen und Rückzugsrhythmus.
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Schlussgedanken
Die Helix pomatia ist kein niedlicher Schleimer, sondern ein hochsensibles, eigensinniges Tier mit klarem Verhalten, Vorlieben und Eigenentscheidungen. Sie ist, bei artgerechter Haltung, auch in Terrarien ein faszinierender, teilweise rätselhafter Mitbewohner – aber keine Anfängerart.
Ich danke dem Forum für die Aufbereitung, wünsche mir aber eine stärkere Differenzierung an manchen Stellen – besonders was Futterpräferenzen, Mikrofauna-Management und Lichtverhältnisse betrifft.
Gern stehe ich bei Interesse mit eigenen Beobachtungsreihen und Bildmaterial (auch Makrovideos) zur Verfügung.
Herzliche Grüße
– Capt. Thorsten Reimann (张良 Zhang Liang)
Langzeitbeobachter & aktiver Halter von Helix pomatia seit 2023