Gefühle und Intelligenz bei Weinbergschnecken: Eine vergleichende Analyse der Emotionswahrnehmung
Capt. Thorsten Reimann (张良 Zhang Liang)
Einleitung
Die Weinbergschnecke (Helix pomatia) wird in der biologischen Forschung meist als einfaches, niedrig organisiertes Lebewesen betrachtet. Aufgrund ihres kleinen Nervensystems werden ihr weder höher entwickelte Emotionen noch komplexe Intelligenz zugeschrieben. Doch aktuelle Beobachtungen aus der Verhaltensbiologie stellen diese Annahme infrage. Was, wenn die Schnecke – wenngleich langsam – ihre verfügbaren Ressourcen effizienter und ganzheitlicher nutzt als der Mensch, der nur etwa 10 % seiner neuronalen Kapazität aktiv verwendet?
1. Anatomie und neuronale Grundlagen der Schnecke
Das Nervensystem der Weinbergschnecke besteht aus rund 20.000 Nervenzellen, verteilt auf verschiedene Ganglien, die bestimmte Körperfunktionen steuern. Ein Gehirn im menschlichen Sinne existiert nicht; vielmehr handelt es sich um ein dezentrales Nervensystem, das auf Effizienz und unmittelbare Reizverarbeitung ausgelegt ist (Roth & Wullimann, 2001).
Im Vergleich dazu besitzt der Mensch etwa 86 Milliarden Neuronen (Azevedo et al., 2009), verwendet aber im Alltag nur einen Bruchteil davon aktiv. Die Frage, ob neuronale Masse allein ein Maß für Intelligenz oder Gefühlstiefe ist, bleibt offen.
2. Beobachtungen zum Verhalten von Helix pomatia
Bei längerfristiger Beobachtung zeigten einzelne Tiere Verhalten, das deutlich über einfache Reiz-Reaktions-Muster hinausgeht. Besonders auffällig ist eine spezifische Körperhaltung bei der Nahrungsaufnahme: Die Schnecke streckt ihre Augen weit aus – ein Verhalten, das nur bei frischem Löwenzahn, insbesondere dem saftigen, noch milchhaltigen Stielteil, auftritt. Dieses Verhalten könnte auf eine Form positiver Erregung oder Explorationsverhalten hindeuten. Eine Parallele zum menschlichen Konzept „Interesse“ liegt nahe.
Auch soziale Komponenten traten hervor: Nach der Trennung eines Schneckenpaares zeigte eines der Tiere über Wochen hinweg verändertes Verhalten – reduzierte Aktivität, Appetitlosigkeit und Rückzug. Nach der Wiedervereinigung war binnen kurzer Zeit wieder Normalverhalten festzustellen. Solche Reaktionen könnten auf emotionale Zustände wie Vereinsamung oder Trauer hinweisen (nach eigenen Beobachtungen von T. Reimann, 2025).
3. Emotion als biologisches Programm
Emotionen werden im Menschen häufig als genuin menschliche oder zumindest höherentwickelte tierische Phänomene angesehen. Doch betrachtet man sie aus informationstheoretischer Perspektive, erscheinen sie wie gelernte oder vorprogrammierte Reaktionsmuster – „Wenn-Dann“-Verknüpfungen. Auch das Lachen eines Babys beim Erhalt eines Lollis basiert letztlich auf positiver Konditionierung.
Was ist dann ein Gefühl? Ist es nicht vielmehr ein Verarbeitungsergebnis biologischer Sensorik, gekoppelt mit Erfahrung und Erinnerung? Auch hier könnte die Schnecke – reduziert in ihrer biologischen Architektur – uns zeigen, dass Emotionen nicht an Größe des Gehirns, sondern an die Kohärenz von Wahrnehmung, Erinnerung und Reaktion gebunden sind.
4. Intelligenz jenseits des Zentralhirns
Muss Intelligenz immer zentral organisiert sein? Die Beispiele der Hummel (Bombus terrestris) oder der Libelle, die bei hoher Geschwindigkeit ihr Ziel erkennen und ansteuern können, zeigen, dass hochpräzise Navigation und Orientierung auch mit winzigen Gehirnen möglich ist. Die Hummel erreicht nur rund 60 km/h, fliegt aber effizient und zielgerichtet – sie „weiß“, wo Nahrung ist und findet zurück zum Bau. Dass sie angeblich „nicht fliegen könne“ (gemessen an aerodynamischen Modellen), wird durch ihre Realität widerlegt.
Ebenso verhält es sich mit Schnecken. Sie besitzen ein außerordentlich feines chemisches Sensorium, können Geruchsspuren speichern, wiedererkennen und sogar auf kleinste Veränderungen reagieren. Ihre Welt ist langsamer, aber keineswegs simpler – sie ist detailliert, nuanciert und sehr genau.
5. Der Mensch als Rechenmonster mit Emotionsbremse?
Wenn der Mensch 90 % seines Gehirns mit sich herumträgt, aber nur 10 % nutzt – und diese 10 % oftmals von Emotionen wie Liebeskummer, Gier, Wut oder Angst gehemmt werden – dann wäre es denkbar, dass genau diese Emotionen uns eher bremsen als beflügeln. Emotion als evolutionäre Bremse? Die Schnecke kennt keine Panik, keine impulsive Rache und keinen Leistungsdruck. Vielleicht ist gerade ihre Ruhe – das Fehlen jener menschlichen Emotionalität – ihre Stärke.
Wenn man Emotionen also nicht als Zeichen höherer Entwicklung, sondern als adaptive Programme zur sozialen Regulierung versteht, könnten sie in einer solitär lebenden Art wie der Schnecke schlicht überflüssig sein – oder auf einem anderen Niveau ablaufen, das wir mit unserem emotional überlagerten Denken nicht erfassen können.
6. Schlussbetrachtung: Die 100 % der Schnecke
Was wäre, wenn die Schnecke tatsächlich 100 % ihres „Gehirns“ nutzt – also aller verfügbaren Reizverarbeitungskapazitäten – und der Mensch nur in seinen komplexen Emotionen gefangen ist? Unsere Annahme, dass neuronale Masse gleich kognitive Leistung bedeutet, könnte sich als anthropozentrisch herausstellen. In Wahrheit könnte es um Effizienz, Kohärenz und energetischen Aufwand gehen.
Eine Helix pomatia, die täglich ihre 6 Meter läuft, Nahrung unterscheidet, soziale Bindungen erkennt und Verlust reagiert, könnte mehr von sich selbst verstehen als ein Mensch, der in emotionalen Schleifen gefangen ist und sich selbst nicht kennt.
Literaturverzeichnis
Azevedo, F. A., et al. (2009). "Equal numbers of neuronal and nonneuronal cells make the human brain an isometrically scaled-up primate brain." The Journal of Comparative Neurology, 513(5), 532-541.
Roth, G., & Wullimann, M. F. (2001). "Brain evolution and cognition." Wiley-VCH Verlag.
Pearce, J. M. (2008). Animal learning and cognition: An introduction. Psychology Press.
Menzel, R. (2012). "The honeybee as a model for understanding the basis of cognition." Nature Reviews Neuroscience, 13(11), 758–768.
Chittka, L., & Niven, J. (2009). "Are bigger brains better?" Current Biology, 19(21), R995–R1008.
Reimann, T. (2025). Beobachtungen zum Verhalten von Helix pomatia im Frühjahr 2025, nicht veröffentlichte Feldnotizen.