Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Hier geht es um wissenschaftliche Aspekte des Schneckenlebens.

Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon wolf am 26.05.2022, 18:20

Hi,
ich will hier kein dickes Fass aufmachen, aber vielleicht doch kurze Randbemerkungen zum heute im Forum angesprochenen Thema „Schmerz“.
(Anmerkung von Rasplutin:
wolf bezieht sich auf den Thread Übernahme schwer verletzter Cornu aspersum Raum Wien)


Zweifellos ist es biologisch extrem sinnvoll für ein Tier, auf schädigende Reize mit einem Zurückziehen der bedrohten Körperzone (oder sogar des ganzen Körpers) zu reagieren. Daher sind solche uralten Reflexe nicht nur bei den Wirbeltieren, sondern auch bei Wirbellosen weitestens verbreitet. Damit sie funktionieren, braucht es natürlich erst einmal Zellen, die den Schmerzreiz aufnehmen und die Info in elektrische Impulse umwandeln, die dann weitergeleitet werden. Das sind die sogenannten „Schmerzrezeptoren“. Im englischen Sprachraum spricht man von „nociceptors“. „noci“ ist abgeleitet von lat. „noxa“, also „Schaden“. Das ist sehr vorsichtig formuliert, denn ein „Nozizeptor“ nimmt erst mal - wie eindeutig gesagt wird - nur einen schädlichen Reiz auf und von Schmerz ist da noch gar nicht die Rede. Solche Nozizeptoren sind auch bei Schnecken seit vielen Jahren bekannt. Sie sind natürlich die entscheidende Voraussetzung für Abwehr-Reflexe, denn damit fängt der Reflexbogen ja an.

Diese Reflexe funktionieren aber selbst bei Wirbeltieren ohne Zutun des Gehirns, sondern (auch beim Menschen) rein auf Rückenmarks-Ebene. Abwehr-Reflexe setzen also prinzpiell gar kein funktionierendes Gehirn voraus, sondern laufen im Nervensystem auf viel tieferer Ebene ab (sie funktionieren also noch, wenn das Gehirn schwerstgeschädigt oder im Extremfall gar nicht mehr vorhanden ist). Aus einem Abwehrreflex zu schließen, dass Schmerz empfunden wurde, ist also ein Trugschluss. Die Registrierung von einem schädigenden Reiz (über die sog. „Schmerz“rezeptoren) und die Schmerzempfindung (!) sind unterschiedliche Dinge (wobei natürlich letzteres immer ersteres voraussetzt).

Ob eine Schnecke bei einer Verletzung etwas empfindet (!), was der menschlichen Schmerzempfindung entspricht oder zumindest nahekommt, ist heute schlicht nicht zu beantworten (vielleicht wird es sich aus prinzipellen Gründen auch nie klären lassen). Selbst beim Menschen kann das Schmerzempfinden (heute) nicht objektiv gemessen werden, sondern man muss sich damit behelfen, dass die Patienten und Patientinnen die Stärke ihres Schmerzes auf einer „Schmerz-Skala“ grob subjektiv einschätzen. Wie schwierig ist das dann erst bei einer Schnecke………. .

Ich schließe mich allen 100%ig an, die sicherheitshalber (!) davon ausgehen, dass eine Schmerz-Empfindung bei Schnecken nicht ausgeschlossen werden kann, also möglich/denkbar ist. Daraus folgt logischerweise, dass wir – was wir ja alle schon tun – versuchen, alle vermeidbaren Reize, die eventuell als Schmerz empfunden werden können, nach Möglichkeit auszuschließen.
Viele der hier angesprochenen Aspekte finden sich in den nachfolgend angegebenen Arbeiten. Zumindest der zweite Artikel ist vollständig und kostenlos im Netz verfügbar, vom ersten die Zusammenfassung.

CROOK R.J. & WALTERS, E.T. (2011): Nociceptive behavior and physiology of molluscs: animal welfare implications. - ILAR J. 52 (2): 185-195, doi: 10.1093/ilar.52.2.185.
WALTERS, E.T. (2018): Nociceptive biology of Molluscs and Arthropods: evolutionary clues about functions and mechanisms potentially related to pain. – frontiers in Physiology, doi: 10.3389/ fphys.2018.01049.

Liebe Grüße: wolf
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon Maja13 am 27.05.2022, 09:39

Sehr interessant!
Danke fürs erklären! :)
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon Iviline am 27.05.2022, 14:09

Danke wolf, für deine Mühe. Sehr interessant :thumb:
Liebe Grüße
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Ein Leben ohne Schnecken?! Sinnlos...
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon wolf am 27.05.2022, 16:03

Danke, Ihr Lieben……… . Gern´ geschehen :) .

Mir fiel gestern Abend noch auf, dass ich (mindestens) eine Sache vielleicht nicht hinreichend klar gemacht habe. Für eine Schmerzempfindung ist mit Sicherheit ein recht komplexes sog. „Nervenzentrum“ erforderlich, also ein Gehirn oder bei Schnecken eben das „Oberschlund-Ganglion“. Das ist bei Schnecken halt das höchste Zentrum des Nervensystems (bei einer bestimmten marinen Nacktschnecke mit rund 20000 Nervenzellen). So etwas wie eine Schmerzempfindung ist nur dort möglich bzw. denkbar. Der Reflexbogen selbst besteht (beim Menschen, und nicht nur dort) aus lächerlichen drei Nervenzellen, die mit Sicherheit keine Empfindungen oder Gefühle generieren können. Dafür wurde der Reflexbogen ja auch gar nicht evolutionär entwickelt (etwas flapsig formuliert).

Herzliche Grüße: wolf
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon HelenZer am 28.05.2022, 07:53

Schmerz als biologisches Signal, dessen Ziel Schadensvermeidung ist, ist denke ich, bei den meisten, wenn nicht allen Lebewesen vorhanden. Dass Schnecken auf bestimmte Reize reagieren, indem sie sich wegbewegen, kann ja auch jeder sehen.
Was mich immer stört, ist die Verwendung des Wortes "Leiden". Das ist ja ein rein mentaler Prozess, dafür bedarf es nicht mal Nervensignale. Menschen leiden. Vielleicht auch Hunde oder Ratten oder Pferde. Aber dass eine Schnecke 'leidet', ist für mich wirklich nicht nachvollziehbar. Ich glaube, für Leiden braucht man etwas mehr kognitive Komplexität...

So wie Wolf schon erwähnt hat, Schmerzempfindung ist ja selbst beim Menschen nicht so ein 100% klares Thema. Es gibt Menschen, die bei einer Verletzung oder Krankheit zitternd in der Ecke liegen und andere Menschen, die bei der gleichen Verletzung oder Krankheit ihrem normalen Tagesablauf nachgehen. Ich bekenne mich selbst schuldig, einmal mehrere Kilometer mit einem rostigen Nagel im Fuß gelaufen zu sein, ohne ihn bemerkt zu haben - mir ist irgendwann nur die Blutspur aufgefallen. Als ich ihn dann bemerkt habe, tat es seltsamerweise auch weh... aber nicht vorher.

Schnecken verhalten sich mit tödlichen Verletzungen teilweise absolut normal, bevor dann wichtige Prozesse zusammenbrechen und sie versterben. Es ist ihnen aber nicht anzusehen, dass sie sich schonen oder Ähnliches. Von daher ist das Schmerzempfindung für mich kein großer Faktor bei Schnecken. Dass man sie nicht unnötig unangenehmen Reizen aussetzen sollte, versteht sich eigentlich von selbst.
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon wolf am 28.05.2022, 08:56

Liebe HelenZer,
vielen Dank für Deine interessanten Bemerkungen.
Du schreibst: "Schmerz als biologisches Signal, dessen Ziel Schadensvermeidung ist, ist denke ich, bei den meisten, wenn nicht allen Lebewesen vorhanden.". Na ja, genau das ist ja eben die Frage, die ich in meinem ersten post dieses threads zu beantworten versucht habe. Für den Ablauf einer Ausweich- oder Abwehrreaktion (die, wie Du ja korrekt schreibst "jeder sehen kann") ist eine Schmerzempfindung zweifellos eben nicht erforderlich.
Weiter schreibst Du: "...........die Verwendung des Wortes "Leiden". Das ist ja ein rein mentaler Prozess, dafür bedarf es nicht mal Nervensignale." Vielleicht sehe ich das falsch, aber für mich sind auch alle "mentalen" Prozesse an elektrische Aktivität von Nervenzellen (und natürlich Transmitter-Ausschüttungen) gebunden.
Dass man/frau Schnecken nicht unnötig unangenehmen Reizen aussetzen soll, habe ich nur noch mal sicherheitshalber erwähnt (dass Dir das klar ist, war mir schon beim Schreiben bewusst). Ich wollte aber auf keinen Fall, dass ich diesbezüglich bei zu schneller Lektüre missverstanden werde.
Herzlichen Dank und alles Gute: wolf
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon HelenZer am 28.05.2022, 14:03

Natürlich sind alle mentalen Prozesse mit biochemischer Aktivität verbunden. :) Ich meinte damit, Menschen können auch Schmerzen empfinden, die rein im Gehirn entstehen und mit keiner Nervenaktivität in den betroffenen Körperteilen einhergehen. Dazu sind Schnecken vermutlich nicht in der Lage.
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon Gelbhalsmaus am 29.05.2022, 08:06

Hallo,
erstmal vielen Dank für diese Erklärung zum Thema Schmerzen bei Schnecken. Bei diesem Thema war ich mir oft unsicher, deshalb freue ich mich so über die tollen Infos.
Mir ist aber eine Frage eingefallen, die nicht konkret was mit dem Schmerzempfinden von Schnecken zutun hat, aber ich denke, es gehört trotzdem zu diesem Thread. Können Schnecken eigentlich auch richtig Hunger verspüren, also richtig Hungern, wenn sie nichts zum Fressen finden? Oder merken sie zwar, dass sie Hunger haben, aber es geht ihnen nicht so wirklich schlecht?
Viele Grüße von Gelbhalsmaus
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon wolf am 29.05.2022, 10:55

Huhu Gelbhalsmaus,
erst mal vielen Dank für Deine freundliche Rückmeldung.
Tja, puh, gute Frage. Ich fürchte, das weiß momentan kein Mensch. Ich habe noch etwas Seriöses darüber gelesen. Ich habe keine Ahnung, ob Schnecken ein Hungergefühl (!) entwickeln können. Das ist ja genau so schwierig, wie beim Schmerz: methodisch kaum möglich, das genau zu untersuchen.
Ich habe gerade eine wüste, extrem gewagte Hypothese im Kopf: vielleicht fressen Schnecken einfach immer, wenn sie etwas aufgrund seines Geruchs, seines Geschmacks und seiner Konsistenz als fressbar einstufen. Wenn dann allerdings das Verdauungssystem mit Nahrung angefüllt ist, könnte es zu einer Hemmung der Nahrungsaufnahme kommen, etwa im Sinne einer "negativen Rückkopplung". So ein Regelkreis käme grundsätzlich ohne "Empfindungen" aus. Ich sagte ja: eine sehr gewagte Hypothese (und vielleicht einfach grober Unfug).
Sorry, aber mehr kann ich dazu leider nicht sagen, und daher will ich da auch nicht weiter herumspekulieren.
Herzliche Grüße: wolf
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon Fusselnase am 29.05.2022, 15:05

Hi,

mega-spannendes Thema, finde ich. Auch wenn es vielleicht nie eine abschließende Einschätzung dazu geben wird, was mit welcher Form von Nervensystem möglich ist. Es ist kein "Faß-Aufmachen", davon zu berichten. Wer hat schon einen eigenen Haus-Biologen zur Verfügung? :mrgreen:
Vor ein paar Jahrzehnten hieß es noch, Tiere würden generell keinen Schmerz empfinden können und nur reflexartig reagieren. Aktuell wird zumindest Wirbeltieren ein Schmerzempfindungsvermögen zugesprochen. Ich bin gespannt, wie die Reise weitergeht.
Die Entdeckungen der intellektuellen Fähigkeiten verschiedener Kopffüßer haben eine Menge Wirbel ("Wirbel", hihi) verursacht. Bisschen am Thema vorbei, hat aber auch mit Nervenzellen zu tun.

Als Laie bleibt einem nur der Blick "von außen". Und irgendwie dann noch der Versuch, das Beobachtete mit dem Hörensagen in Einklang zu bringen. Zum "Zeigen" von Schmerzempfinden: zumindest höhere Tiere verstecken ihr Unwohlsein so gut es geht. Ungewöhnliches Verhalten würde Beutegreifer auf sie aufmerksam machen und/oder Artgenossen dazu verleiten, den Kontakt zu meiden. Wer an den Rand der Herde gedrängt wird oder ihr nicht mehr richtig folgen kann, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit weggesnackt.
Dass man "von außen" nichts sieht, muss also nicht bedeuten, dass nichts da ist.

Zum Leiden: vielleicht wird das hier unterschiedlich definiert? Für mich ist Leiden schlicht der Zustand auf der Skala noch unter Unwohlsein. Zuviel Schmerz, zuviel Durst, zuviel was-auch-immer. Im Zweifel gehe ich lieber vorsichtshalber davon aus, dass mein Gegenüber Leid empfinden kann. Dann bin ich im Falle einer Fehleinschätzung nur unnötig vorsichtig mit ihm/ihr umgegangen. Das wäre für mich persönlich schlicht das kleinere "Übel" als im umgekehrten Fall.
LG Paula
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon Maxima am 29.05.2022, 15:41

Ich möchte da auch - komplett unwissenschaftlich, rein aus dem Bauch raus - dagegenhalten.

Ich bin der Überzeugung, daß jede Lebensform den gleichen Willen zum Leben hat, vergleichbar empfindet und Zustände wie Verletzungen, Krankheit, Hunger, negative äußere Einflüsse im eigenen Rahmen gleich empfindet, d.h. daß es für einen Menschen genauso schmerzhaft ist, eine Verletzung zu erleiden wie für einen Hund, einen Frosch, einen Käfer... Auch wenn da vielleicht "technisch" ganz unterschiedliche Nervensysteme und Reizweiterleitungen bestehen, die Bedeutung des erlittenen Einflusses ist meiner Überzeugung nach für jedes Lebewesen die gleiche.

Und in dem Zusammenhang bin ich auch überzeugt daß auch bei Wirbellosen, Insekten etc. Leiden möglich und real ist.

Wenn ich mir grade heute die verletzte Weinbergschnecke anschaue die ich gefunden habe - ja, sie leidet, ganz eindeutig und unbestreitbar.
Liebe Grüße
Ulla
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Re: Abwehr-Reaktion und Schmerz-Empfindung

Beitragvon wolf am 29.05.2022, 16:35

Huhu liebe Fusselnase,
Du schreibst: "Die Entdeckungen der intellektuellen Fähigkeiten verschiedener Kopffüßer haben eine Menge Wirbel ("Wirbel", hihi) verursacht." Danke für Deinen Humor......... :) . Und, ja, da stimme ich Dir absolut zu. Ich hatte ja auch schon mal irgendwo geschrieben, dass die biochemischen Prozesse des Lernens an einer Meeresschnecke untersucht worden sind (siehe Arbeiten von KANDEL, E. et al.).
Und weiter: "Dass man "von außen" nichts sieht, muss also nicht bedeuten, dass nichts da ist." Sehe ich exakt genau so. Im Grunde eine Variante des alten Spruches "Absence of evidence is not evidence of absence." (sinngemäß: das Fehlen von Beweisen ist kein Beweis für das Fehlen [von irgendetwas]).
Und schließlich: "Im Zweifel gehe ich lieber vorsichtshalber davon aus, dass mein Gegenüber Leid empfinden kann." Das ist ja das Schöne, dass wir uns offenbar alle im Forum darüber einig sind. Und das ist ja auch letztlich das Entscheidende. Ich wollte nur (u.a.) ein wenig genauer aufdröseln, dass eine Abwehrreaktion nicht zwingend auf eine Schmerzempfindung schließen lässt. Das ist schon ein bisschen komplizierter (s.o.).
Einen schönen Sonntag-Abend noch: der wolf
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